Gedenken und Begegnung in Maisenbach: 85 Jahre Reichspogromnacht

Persönliches Erleben und historische Forschung: Ein gemeinsamer Blick auf den Umgang mit dem Nationalsozialismus bis in die  Nachkriegszeit – Begegnungsabend zum Gedenken an die Reichspogromnacht 1938 mit Dr. Franziska Becker und Dr. Fredy Kahn

»Der Harry ist wieder da!« – Die Rückkehr von Harry Kahn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in sein Heimatdorf Baisingen bei Rottenburg hat nicht nur Freude ausgelöst, sondern auch Unbehagen. Als einer von fünf Juden, die den Holocaust überlebt hatten, kam er nach Baisingen zurück und blieb bis an sein Lebensende hier. Er arbeitete als Viehhändler und war bekannt in der ganzen Umgebung. Im Dorf war er eine Art »wandelndes schlechtes Gewissen«: Die Menschen erfuhren, was man davor nur geahnt oder verdrängt hatte: Wie grausam Deutsche mit den Juden umgegangen waren, wie jüdische Mitmenschen ins KZ gebracht und umgebracht wurden.

Harry Kahn forderte zurück, was man ihm genommen hatte, zum Beispiel das Schlafzimmer seiner Eltern oder das Schabbat-Geschirr seiner Mutter. Von ihm ging eine moralische Macht aus, die »durch sein Erscheinen die christliche Vorstellung außer Kraft setzte, dass Schuld erst im Jenseits zu sühnen wäre«.

Diesen Satz schrieb die Kulturwissenschaftlerin Dr. Franziska Becker, nachdem sie in den 1990er Jahren für ihre Forschungen zahlreiche Interviews mit Baisinger Bürgern geführt hatte. In Ihrem Buch »Gewalt und Gedächtnis« hat sie damals den Umgang der nichtjüdischen Dorfbevölkerung mit der Verschleppung ihrer jüdischen Nachbarn analysiert. Was dachte man, als die Juden des Dorfes auf Leiterwagen in die Deportation gezwungen wurden und ihr Hausrat auf offener Straße versteigert wurde?

Harry Kahns Sohn Fredy wurde 1947 in Baisingen geboren. Später zog er nach Nagold und praktizierte jahrzehntelang als Hausarzt. Die Begegnung von Fredy Kahn mit Franziska Becker und die Auseinandersetzung mit ihren Forschungen führten dazu, dass er vor der Jahrtausendwende einen endgültigen Schlussstrich unter seine Baisinger Vergangenheit zog und sein Elternhaus verkaufte. Damit endete die Geschichte seiner Familie im Dorf nach mindestens zehn Generationen – und auch die Geschichte des Baisinger Landjudentums insgesamt.

Franziska Becker und Fredy Kahn werden an einem Vortrags- und Begegnungsabend am Donnerstag, den 9. November in Maisenbach gemeinsam vom Umgang mit dem Nationalsozialismus bis in die Nachkriegszeit erzählen, aus zwei unterschiedlichen Perspektiven, von persönlichen Erfahrungen und von wissenschaftlicher Forschung.

Genau 85 Jahre nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wird dies ein eindrücklicher und authentischer Blick auf die Geschichte eines Dorfes mit ehemals jüdischer Gemeinde in unserer Heimat sein. Mit dem Abend im IP-Zentrum will sich das Hilfswerk Zedakah der Frage annähern, was wir aus der Vergangenheit lernen können und wie heute Versöhnung aussehen kann – und auch, wie gemeinsam der Antisemitismus bekämpft werden kann, der seit Jahrtausenden existiert und der seit dem Hamas-Terrorangriff am 7. Oktober 2023 auch in Europa deutlich sichtbar ist.

Der Abend beginnt am Donnerstag, 9. November 2023 um 19.30 Uhr im IP-Zentrum in Maisenbach. Es gibt auch eine Live-Übertragung auf YouTube. Weitere Informationen unter www.israelperspektive.de