Tag 17 – »Ich kann doch nicht nur rumsitzen«

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Von Judith Rentschler aus Shavei Zion

Krieg in Israel bedeutet nicht nur Alarm, Schockstarre und angstvolles Warten im Schutzraum, sondern auch das Bewusstsein, Teil einer Gemeinschaft zu sein und eine große Bereitschaft, sich (kreativ) zu engagieren.

»Wir haben kein anderes Land«, »Mal wieder stärkt ein Feind unser Zusammengehörigkeitsgefühl«, »Der Hamas ist es egal, wen du und ich gewählt haben (bezogen auf die heftigen Auseinandersetzungen bezüglich der Justizreform) – für die sind wir ›einfach nur‹ Juden«.

Flugzeugweise kamen junge Männer und Frauen von allen Erdteilen zurück nach Israel, um sich für einen Einsatz an der Front zu melden. Tausende von orthodoxen Juden, die sich bislang vehement gegen den Wehrdienst gestellt haben, bitten um die Einberufung. Wer zu alt, zu jung, krank, mit kleinen Kindern oder wegen eines krisenfesten Jobs »zuhause« ist, bringt sich vor Ort ein: Im Akkord wird in den Dörfern und Städten für die vor Ort stationierten Soldaten gekocht und gebacken, Grüße werden verschickt und Solidaritätsbanner erstellt, Videos und Posts entstehen, die auch humorvolle Momente weitergeben, um die Anspannung wenigstens kurz zu lockern. Eine über 80jährige Dame kaufte das komplette Sortiment an grüner Wolle in ihrer Stadt auf und strickt jetzt Mützen für Soldaten.

Auch in Shavei Zion gibt es viele Möglichkeiten, einen freiwilligen Beitrag zur Stärkung der Heimatfront zu leisten: Beschäftigungsangebote für Kinder und Jugendliche, Babysitterdienste, medizinisch Ausgebildete erarbeiten Notpläne, Therapeuten bieten Gesprächsmöglichkeit an. Besonders hervorzuheben sind die Bewohner, die 24/7 die Ortseingänge bewachen – oft neben bestehender beruflicher Tätigkeit.

Gemeinschaft und sinnvolle Betätigung sind so wichtig, v.a. in dieser angespannten Wartesituation.

Unser – dank des Kurzeinsatzes eines Ehepaars aus Deutschland – zur Zeit besonders schön gepflegter Garten mit unmittelbarem Zugang zu Bunker und Schutzräumen bietet Möglichkeit zu solchen Treffen. Spontan kamen am Freitagnachmittag einige Familien bei uns zusammen, um ein Banner zum Gruß für die Shavei Zioner Soldaten zu gestalten, untermalt von Livemusik unserer Nachbarn. Für Mittwoch fragten die Senioren des Ortes unseren Garten an. Auch unsere Nachbarin wurde bereits von zwei Kamerateams auf unserem Gelände zu ihrem getöteten Mann interviewt.

Neben den alltäglichen Aufgaben haben wir jetzt auch begonnen, das zugewachsene Gelände zwischen unserer Grundstücksgrenze und dem Strand zu lichten, damit etwaige Terroristen dort keinen Sichtschutz haben.

Dass trotz einer (noch) sicheren Umgebung und aller fröhlichen Momente keine Normalität herrscht, bringen nicht zuletzt auch Kinder zum Ausdruck, die der Anspannung in besonderer Hilflosigkeit ausgesetzt sind: Eine 12-jährige Nachbarin nässt nachts ein, ein 8-jähriges Mädchen fragte mich ganz unvermittelt neben Gesprächen über Igel und die Zahnfee schon mehrmals, ob ich bei Alarm in den Bunker oder den Schutzraum renne und ob der Kondensstreifen eines Flugzeugs nicht vielleicht doch eine Rakete sei. Und: »Wissen die Kinder in Deutschland, dass hier Krieg ist?«

Eine andere 8-Jährige aus einem Kibbuz am Gazastreifen hatte sich während des Terroristenangriffs zusammen mit ihrem Bruder in einer Kiste mit Bettwäsche versteckt. Die Familie ist jetzt in einem »sicheren« Hotel untergebracht, aber das Mädchen kann nur unter dem Bett einschlafen …

Frauen mit kleinen Kindern sind hin- und hergerissen. Soll ich meinen Kindern zuliebe das Land mit ihnen verlassen? Oder ist es besser, wir bleiben als Familie zusammen? Gibt es hier im Land sichere Zonen? Ist es in einer Zeltstadt in Eilat tatsächlich besser? Ist die nationale Gemeinschaft unterstützender als ein sicheres Land, in dem man meine Situation, Gedanken und Gefühle nicht wirklich nachvollziehen kann?

Israel, das jüdische Volk, ist im Innersten eine zutiefst traumatisierte Gesellschaft. Es ist ein göttliches Wunder, dass sie immer wieder Hoffnung schöpfen, Mut zum Weitermachen bekommen und mit allen Mitteln gegen Verzweiflung ankämpfen.

Wir haben uns als Werk Zedakah dem »Tröstungsauftrag« aus Jesaja 40,1 verpflichtet. Doch täglich werden wir mit unserer Ohnmacht konfrontiert. Unser menschlicher Trost und Zuspruch ist so schwach. Wir vertrauen aber auf Gottes Zusage, dass ER trösten wird (Jes. 51,12) und wir sind dankbar, wenn er uns dabei gebraucht. Gerade auch jetzt vor Ort. Durch unser Hiersein, durch unsere Bereitschaft, seine Liebe weiter zu geben.

Bitte betet weiter!

  • Für alle, die unermüdlich im Hintergrund im Einsatz sind, um die Situation erträglich zu gestalten und Hilfe im Alltag anzubieten.
  • Für örtliche Sicherheitsleute und Wachmannschaften.
  • Für die Kinder auf beiden Seiten, die (un-)mittelbar Terroropfer geworden sind.
  • Für die Mütter, die die große Anspannung ausgleichen müssen.
  • Für alle Neu- und Re-Traumatisierten.
  • Für die Entführten in den Händen der Hamas. Mögen sie sich in Gottes Händen geborgen wissen.
  • Für die Altgewordenen, die sich in besondere Weise hilflos fühlen.
  • Für uns als Mitarbeiter von Zedakah, dass wir uns unseren Auftrag vor Augen halten und bereit sind, das zu tun, was ER uns zu tun gibt.