»EIN Glück reichte nicht zum Überleben«

85 Jahre Reichspogromnacht – Gedanken von Judith Rentschler aus Shavei Zion zum Jahrestag am 9. November.

Die Ereignisse des letzten Monats wurden und werden kontrovers und emotional diskutiert. Wer hat recht? Wer liegt falsch? Wer ist Täter? Wer Opfer? Wer ist verantwortlich? Bilder, Videos und Posts werden im Sekundentakt geteilt, Statements abgegeben und Meinungen gebildet.

Eine Kurzdokumentation hat mich besonders ins Nachdenken gebracht: Naftali First, 91-jähriger Auschwitzüberlebender, berichtet über die bangen Stunden der Ungewissheit über das Schicksals seiner Enkelin, die mit ihrem Mann und dem zweijährigen Sohn am Morgen des 7. Oktober 2023 im Kibbuz Kfar Aza vom Angriff der Terroristen überrascht wurden. Dass sie überlebten, nennt er »noch ein riesiges Wunder« seines Lebens. Den Vergleich der Hamas mit den deutschen Nationalsozialisten bezeichnet er als nicht ganz zutreffend: »Ähnlich, aber nicht gleich«.

In der Shoa reichte EIN Wunder nicht zum Überleben. Was vor einem Monat geschah, nennt er eine »Mini-Shoa«.
Mini-Shoa – Mini-Holocaust – Mir wird schlecht, wenn ich mir der Bedeutung dieser Worte bewusstwerde. Vor nicht einmal 100 Jahren – noch leben Menschen, die diese Zeit erlebt haben auch bei uns im Beth Elieser – waren wir Deutschen die Terroristen. Und das nicht »nur« einen Tag, sondern über Jahre hinweg.

Alles, was uns jetzt erschüttert und entsetzt – was uns emotional an den Rand bringt, was uns nach Gerechtigkeit rufen lässt, wo wir uns fragen, wie Menschen so etwas anderen Menschen antun können – all das erlitten die europäischen Juden durch deutsche Hände, im Namen des Christentums – über JAHRE hinweg. Bis ins kleinste Detail wurde die Auslöschung des jüdischen Volks geplant und systematisch ausgeführt. Babys wurden in den Armen der Mütter erschossen, alte Menschen und Kleinkinder auf Lastwagen gepfercht und vergast, verbrannt. Junge Frauen vergewaltigt, Embryonen aus dem Mutterleib geschnitten. Millionen haben nicht überlebt und niemand ist für sie eingestanden, Millionen sind allein und traumatisiert zurückgeblieben und niemanden hat es interessiert. In den JAHREN der Verfolgung reichte nicht »NUR EIN« Wunder zum Überleben.

Auf keinen Fall möchte ich die Gräueltaten des letzten Monats kleinreden und abschwächen. Es gibt keine Worte dafür und unsere Gebete und Gedanken gelten den Überlebenden, Verletzten und Entführten. Aber lassen wir es auch zu, dass wir uns als Deutsche bewusst machen, welcher Verbrechen an Israel, an Gottes Volk, unser Volk sich schuldig machte? Berührt es uns überhaupt noch?

Timo Roller verarbeitet diese Gedanken mit Collagen (Zeichnungen der Holocaustüberlebenden Ella Liebermann-Shiber) über aktuellen Fotos. Siehe www.papierblatt.de

Am 9. November jährt sich die Reichspogromnacht zum 85. Mal. Lasst uns dieses Jahr bewusst der Opfer gedenken, der Ermordeten und derer, die heute noch leben und weiter um ihr Leben und das ihrer Kinder bangen. Lasst uns von ganzem Herzen dankbar sein, dass das jüdische Volk uns Deutschen die Hand des Vertrauens entgegenstreckt und wir heute die Überlebenden in unsere Häuser in Maalot und Shavei Zion aufnehmen dürfen.

Lasst uns dem Gott Israels danken, dass er uns als Volk nicht vernichtet und uns damit eine zweite Chance gegeben hat. Lasst uns diese Chance ergreifen und HEUTE bedingungslos auf der Seite Israels stehen!

Hinweisen möchte ich auch auf den Gedenk- und Begegnungsabend am 9. November im IP-Zentrum in Maisenbach mit Dr. Fredy Kahn und Dr. Franziska Becker.