»Wir müssen alles tun, um hartnäckig zu bleiben«

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Eindrücke aus Shavei Zion am Tag 38 nach dem Hamas-Angriff

Israel wird in 2. Mose 32 als »am kashe oref« beschrieben, als »halsstarriges Volk«. Wörtlich könnte es als »Volk mit hartem Nacken« übersetzt werden. Im biblischen Kontext wird diese Charakterisierung negativ bewertet, doch sie hat durchaus auch positive Aspekte.

So bedeutet »Oref« im modernen Sprachgebrauch nicht nur Nacken, sondern auch alles, was nicht erste Frontlinie ist (sei es im Krieg oder anderen Ausnahmesituationen). Über »Pikud HaOref«, das »Heimatfrontkommando« werden wir in Echtzeit über Raketenalarm und jeweils aktuell geltende Bestimmungen und Sicherheitsmaßnahmen informiert. Immer wieder ist die Rede davon, im voraussichtlich noch lange dauernden Kriegszustand eine Routine zu entwickeln, die den »Oref« stärkt, da für alle klar ist, wenn der Nacken nicht kraftvoll ist, kann er den Kopf nicht tragen. Wenn das Volk, das nicht direkt an der Front ist, schwach ist, die Unterstützung für die kämpfende Bevölkerung fehlt, verliert auch diese Speerspitze ihre Kraft.

Routine im Kriegszustand, was bedeutet das (nach dem Beitrag eines israelischen Nachrichtenportals)? – Zunächst einmal: das Haus verlassen (selbstverständlich, ohne sich in Gefahr zu begeben); raus gehen – andere Menschen sehen, sich austauschen; raus gehen – zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen; raus gehen – um Abstand zu gewinnen, sich was Gutes zu tun. Dies sei essentiell für die Stärkung der seelischen Widerstandskraft und bewahre die Wirtschaft vor dem vollständigen Kollaps.

Organisatorisch ist das eine sehr große Herausforderung: Alles muss in Bunkernähe stattfinden; es gibt Begrenzungen der Versammlungsgröße etc. Alles, was geplant wird, ist bei Änderung der Sicherheitslage, manchmal innerhalb von Minuten, wieder hinfällig – für euch in Deutschland vielleicht etwas vergleichbar mit dem Höhepunkt der Coronakrise.

Wir in Maalot und Shavei Zion befinden uns irgendwo zwischen Front und »Oref«. Einerseits an der Konfrontationslinie im Grenzgebiet, andererseits (noch) nicht direkt an der Front. Was bedeutet das für unseren Alltag? Was ist unser Beitrag zur Stärkung des »Orefs«? – Kriegsroutine! Normalität in ständiger Alarmbereitschaft.

Beth Elieser: Heute vor einem Monat wurden die Pflegestationen und Küche in die Bunkerebene verlegt. Darum herum hat sich mittlerweile ein Alltag etabliert, der einschränkt und herausfordert, der aber den Heimbewohnern und Mitarbeitern auch noch die Möglichkeit gibt, immer wieder der Bunkerenge zu entkommen.

Manchmal werden wir gefragt, warum die Heimbewohner im Bunker sind und wir Mitarbeiter auch in unseren eigenen Zimmern schlafen können. Die Sicherheit unserer Heimbewohner ist der einzige Grund für diesen Unterschied. Im Ernstfall sind diese aufgrund ihrer starken körperlichen Einschränkungen nämlich nicht so schnell in einem geschützten Bereich wie wir.

Beth El: Innerhalb unseres Ortes sind wir ein fester Bestandteil. An manchen Tagen werden wir halbstündlich kontaktiert. Die Anfragen reichen vom Benutzen der Waschmaschinen durch Evakuierte, über Nutzung unserer Räumlichkeiten und des Gartens für gemeinschaftsfördernde Angebote des Ortes, bis hin zu Zimmerreservierungen (meist Nachbarfamilien) für den Ernstfall und Bitte um Arbeitseinsätze im Beth Elieser. Unser Anliegen ist es, im Ort präsent zu sein und für die Anliegen der Dorfbewohner offene Ohren, Hände und v.a. Herzen und Zeit zu haben.

Nicht selten sind die verschiedensten Telefonate und Besuche im Haus mit Ermutigungsgesprächen verbunden. Spontane, situationsbedingte Absagen und Planänderungen erfordern von uns viel Flexibilität, und: »Durchatmen – weiter geht’s!«

Zu den Herausforderungen durch beengte Arbeitsbedingungen, bzw. spontane Planänderungen und Aufgaben kommt die Anspannung, die jeder und jede von uns Mitarbeitern kompensieren muss. Unterschwellig sind wir fast andauernd in Alarmbereitschaft. Was sind das für Geräusche? Explosionen, Abschüsse? Raketenalarm? Gibt es im Supermarkt einen Schutzraum? Und wenn ich im Auto bin und Alarm kommt?

Zeiten richtiger Entspannung gibt es selten und doch ist das so wichtig, um wieder Kraft zu bekommen für alle Aufgaben. Umso dankbarer sind wir, dass wir trotz der Kriegslage immer wieder auch die Möglichkeit für den einen oder anderen Ausflug in bislang sicherere Landesteile haben (beispielsweise die Gegend um den See Genezareth, bzw. zwischen Haifa und Netanja). Mal raus, mal was anderes sehen, mal kurz die Realität der angsteinflößenden Schreckensnachrichten vergessen, mal die Detonationen weniger stark hören …

Eine besondere Art von Ausflügen sind unsere Einsätze in der Landwirtschaft. Auch das gehört zur Stärkung des »Orefs« und der Wirtschaft. Mehrere 1000 Israelis folgen dem Aufruf des Landwirtschaftsministeriums und bringen sich landesweit ein. Die Landwirte sind von Herzen dankbar für jede helfende Hand und werden ermutigt, zuversichtlich weiterzumachen – und wir sind dankbar, wenn wir auch in ein paar Wochen noch Obst und Gemüse »made in Israel« bekommen.

Besonders in diesen unsicheren Zeiten sind wir so dankbar, dass wir den kennen, der alles in der Hand hat und die Kontrolle nicht verliert. Unser Herr kennt unsere Fragen, unsere Ungewissheit, das Gefühl der Angst und Sorge. Bei Ihm dürfen wir zu Ruhe kommen. Das spüren wir immer wieder.

Vielen Dank an euch als Beter und Unterstützer. Ihr seid unser »Oref«. Eure Gebete und Grüße ermutigen uns, mit Ausdauer weiter zu machen. Bitte bleibt (hartnäckig) dran und betet mit uns für

  • alle, die in der allgegenwärtigen Anspannung einen Alltag aufbauen müssen (Mütter, Lehrkräfte, Landwirte, Sozialarbeiter, u.v.m.)
  • die mehreren 100 000 Evakuierten, die nicht wissen, wo ihr Alltag stattfinden soll
  • alle, die an vorderster Front (an ALLEN Grenzen und auch an Brennpunkten im Land) ihr Leben aufs Spiel setzen
  • alle Entführten, deren Alltag ein Albtraum ist
  • alle, denen die Anspannung zur psychischen Not wird
  • uns als Zedakah-Mitarbeiter. Dass unsere Häuser Orte der Ruhe sind und Gottes Friede hier spürbar ist.