Nach 85 Jahren klingelt das Glöckchen wieder

»Reichskristallnacht« –die Bezeichnung ist umstritten und das Wort wurde einmal als »sprachlicher Stolperstein« bezeichnet. Es erinnert an die zersplitterten Synagogenscheiben der Novemberpogrome an jüdischen Menschen und Einrichtungen im Jahr 1938. Die Demütigung jüdischer Menschen nahm Fahrt auf und mündete im Massenmord an etwa sechs Millionen Juden in Europa. Auch in das kleine Dorf Baisingen bei Rottenburg kamen marodierende Nazi-Schergen, um unter den Augen der Bevölkerung großen Schaden anzurichten. Das Synagogengebäude blieb erhalten – aufgrund der dicht angrenzenden Nachbarhäuser wagte man nicht, es anzuzünden. Seit 25 Jahren ist die Synagoge Gedenkstätte, mit sichtbaren Spuren der Zerstörung und der Nutzung als Scheune nach dem Krieg. Die Thorarollen aus der Synagoge wurden auf dem Nachbargrundstück verbrannt.

Franklin Kahn ist der Sohn von Siegfried Kahn, zu dessen Elternhaus dieses Grundstück gehörte. Dieser floh nach England, bei einem späteren Besuch wurde ein kleines Glöckchen gefunden, das zu einer der reich verzierten Heiligen Rollen gehörte. Franklin hütete es wie einen Schatz, als Erinnerung an die alte Heimat.

Franklin ist der Cousin von Fredy Kahn, der im Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin Franziska Becker einen Gesprächs- und Gedenkabend im »IP-Zentrum« der Hilfsorganisation »Zedakah« in Maisenbach mitgestaltete. 80 Besucher waren gekommen anlässlich des 85sten Jahrestags jener »Reichskristallnacht«, knapp 100 Zugriffe verzeichnete zudem der Livestream der Veranstaltung.

Franklin Kahn mit dem Glöckchen der Thora-Rolle, Prof. Dr. Wilfried Sturm am Klavier, Kerzen für die Opfer des Holocaust und des Hamas-Massakers sowie die beiden Vettern Franklin und Fredy Kahn.

Fredy wiederum ist der Sohn von Harry Kahn, Siegfried Kahns Bruder. Harry Kahn war in Baisingen geblieben und wurde 1941 deportiert, er durchlitt neun verschiedene Konzentrationslager und wog schließlich noch 37 Kilogramm, nachdem er am Kriegsende in Theresienstadt befreit wurde. Nach einigen Wochen Genesung in einem Sanatorium bei Stuttgart kehrte Harry in sein Heimatdorf Baisingen zurück. Er blieb und arbeitete wieder als Viehhändler, wie Generationen seiner Ahnen vor ihm – bis ins 17. Jahrhundert lässt sich die Geschichte der Familie Kahn in Baisingen zurückverfolgen.

Fredy Kahn kam 1947 zur Welt, er erlebte als Heranwachsender die Nachkriegsgeschichte in Baisingen mit. Franziska Becker ist Kulturwissenschaftlerin und erforschte die Dorfgeschichte nach dem Krieg für ihr Buch »Gewalt und Gedächtnis«, das nun nach Jahrzehnten in einer druckfrischen Neuauflage vorliegt. Sie führte viele Interviews mit der Baisinger Bevölkerung – den Zeitzeugen der Pogrome, der Deportationen und der Versteigerungen des jüdischen Besitzes im kleinen Ort.

Kahns Erfahrungen und Beckers Erkenntnisse ergänzten sich an diesem fesselnden Gesprächsabend. Aus gemeinsam entdeckten Unterlagen auf dem Dachboden des Elternhauses konnten sie zudem Vergessenes und Verschwiegenes rekonstruieren. Die Einheimischen hatten sich manches schöngeredet: Anstatt Mitleid mit den jüdischen Opfern äußerten sie eher, es sei »schad ums Sach« gewesen, das damals zerstört wurde. Einige profitierten von der Deportation der Juden, machten eine Laubhütte zum Hühnerstall oder die Umzäunung des jahrhundertealten jüdischen Friedhofs zum Gartenzaun.

Harry Kahn bemühte sich teilweise um die Herausgabe des einstigen Besitzes, nach seiner ausgesprochenen Drohung gegen den unrechtmäßigen Besitzer wurde der Zaun über Nacht wieder an seine richtige Stelle gebracht. Es zeigte sich aber auch, dass auf den Finanzämtern die gleichen – entnazifizierten – Beamten, die akribisch die Versteigerungen dokumentiert hatten, nun widerwillig die Restitutionsansprüche erfüllen sollten.

In den Interviews von Franziska Becker war das oft noch von antisemitischen Stereotypen geprägte Denken der Baisinger Bürger zutage getreten. Dies erschütterte Fredy Kahn zutiefst und Ende der 1990er Jahre verkaufte er sein Elternhaus in Baisingen und beendete damit die Anwesenheit von jüdischem Leben im Dorf, das für zehn Generationen die Heimat seiner Familie gewesen war.

Fredy Kahn und Franziska Becker erläuterten zahlreiche Dokumente und Fotos und zeigten so ein facettenreiches Bild der deutschen Nachkriegsvergangenheit, wie sie sich in Baisingen wohl stellvertretend für viele andere Orte abgespielt hatte.

Sehr bewegend war es dann, als zum Ende des Gesprächs noch Franklin Kahn auf die Bühne trat und kurz die Geschichte seines Glöckchens erzählte – und es nach 85 Jahren zum ersten Mal wieder auf deutschem Boden erklingen ließ.

Abschließend gab es ein Zeichen der Versöhnung und Hoffnung: Franklin und Fredy Kahn, die beiden schwäbisch-jüdischen Vettern, entzündeten gemeinsam mit Franziska Becker sowie Martin Meyer, dem Vorsitzenden von Zedakah, eine Doppelkerze zum Gedenken an die Opfer des Naziterrors. Und auch den Opfern vom 7. Oktober 2023 wurde gedacht, als während des Hamas-Angriffs in Israel wieder Juden umgebracht wurden, weil sie Juden waren. An die über 200 israelischen Geiseln, die immer noch im Gazastreifen gefangengehalten werden, erinnerten drei leere Stühle mit Plakaten und Blumen. Der sichtlich bewegte Franklin Kahn rezitierte das jüdische Trauergebet »Kaddisch«, bevor Martin Meyer zum Abschluss einen Psalm betete.

Die anwesenden Besucher erhielten tiefe und sehr persönliche Einblicke in die schwierige Situation der Juden in Deutschland, die sich auch nach dem Krieg fortsetzte. Und besonders nach den schrecklichen Ereignissen in Israel flammt der Antisemitismus weltweit auf und die Situation ist auch in Deutschland sehr beängstigend. Fredy Kahn äußerte große Besorgnis und erzählte, dass er Franklin beim Abholen am Flughafen gebeten habe, seine Kippa abzunehmen. Auch die beiden im iP-Zentrum anwesenden Polizeibeamten ließen – 85 Jahren nach der »Reichskristallnacht« – den Ernst der Lage für jüdische Menschen erahnen.