von Judith Rentschler
Ich sitze an meinem freien Tag beim Frühstück auf dem Balkon und genieße die Aussicht aufs Meer, sehe sportliche Mitarbeiterinnen aus Maalot, die mit ihren SuPs (Stand-Up-Paddleboards) schon im Wasser sind, rieche die salzige Luft und höre die Boote, die die Bohrplattfom der sich im Bau befindenden Entsalzungsanlage wieder an ihren Platz ziehen – als wäre nichts gewesen. VERRÜCKT!

Ver-rückt: die Pflegestation in den Bunker, die Tasche mit persönlichen Dingen ans Kopfende des Stockbettes im Mitarbeiterbunker, die Nachbarfamilie inkl. Freundin, Oma und Hund (»Schnell nochmal zurück. Wir haben das Baby vergessen!«) in ein Gästezimmer, Touristen in den Schutzraum – innerhalb weniger (Nacht-)Stunden und dann 12 Tage später (innerhalb weniger Abendstunden nach Ankündigung des Waffenstillstands) wieder zurück ver-rückt: die Pflegestation aus dem Bunker, die Tasche wieder ins eigene Zimmer, die Nachbarfamilie (mit Baby!) ins Haus am Ende der Straße, die Touristen in das nächste Flugzeug (von Sharm el Sheik, Amman oder Tel Aviv) zurück nach irgendwo in Europa.
Ver-rückt. Dieses Wort kommt mir immer wieder in den Kopf, wenn ich über die letzten 12 Tage nachdenke. Nachdenken – ein Luxus, der Ruhe erfordert. Seit dem 13.6. gab es bei uns nur Gegenwart. Gestern ist laaaaaaange her und morgen soooooo weit weg. JETZT ist Alarm, JETZT bin ich im Schutzraum, JETZT höre ich die Abschüsse, JETZT kommt Entwarnung, JETZT realisiere ich: ich bin unverletzt, das Haus steht noch, wir können damit weitermachen, was beim Alarm abgebrochen werden musste (Schlaf, Frühstück, Boden wischen, Einkauf, Bibelstunde), JETZT ist Voralarm, JETZT ist Alarm …
20 Mal in 12 Tagen – wer hat da die innere Ruhe, um nachzudenken?
Und jetzt? – »Israel und Iran kehren zum Alltag zurück«, lese ich in der Tagesschau-App. »Das ganze Land ist grün – keine Einschränkungen des alltäglichen Lebens – Routine«, meldet die App des israelischen Zivilschutzes.
Einfach weitermachen, als wäre nichts gewesen? Am ersten Morgen des Waffenstillstands kommt die erschütternde Nachricht: Sieben 20-jährige Soldaten sind im Gazastreifen gefallen (»Die haben doch letztes Jahr erst Abi gemacht.«); 50 Entführte werden immer noch von der Hamas festgehalten (»Mein Mann hat unsere Zwillinge das letzte Mal mit Schnuller und Windel gesehen, nächste Woche werden sie 5 Jahre alt«); 28 Zivilisten kamen bei den Raketenangriffen der letzten Tage ums Leben, Hunderte wurden verletzt, 12–17.000 sind obdachlos; der Sachschaden ist immens (laut ersten Schätzungen über 1 Mrd. höher als die Schadenssumme ab dem 7.10.2023). Auch Freunde von uns sind davon betroffen.
Einfach weitermachen? Rein äußerlich ist das vielleicht möglich und auch nötig, wie eine Nachbarin bemerkte: »Liegen bleiben ist für uns Juden keine Option. Sonst würde es uns schon lange nicht mehr geben.« – Und doch bleiben Wunden und Narben zurück.
Gott sei Dank hat ER in den letzten beiden Wochen viele Wunder geschenkt, sowohl bei den Angriffen im Iran, als auch in Israel selbst, wo die zu erwartenden Opferzahlen bei Beginn der Offensive viel höher eingeschätzt wurden. Und doch »wurden wir existenziell bedroht. Das macht etwas mit jedem von uns. Wir sind alle unsagbar müde, können uns schlecht konzentrieren, sind leicht gereizt. Wir merken, dass etwas (mit uns) nicht normal ist, aber wir fühlen uns schlecht, das zu sagen, weil es uns ja (äußerlich) gut geht. Wer bin ich, dass ich mich beschwere, wo mein Haus doch noch steht, meine Kinder nicht entführt sind und mein Mann nicht gefallen ist?« – So oder so ähnlich kommt es gerade in vielen Gesprächen mit Israelis zum Ausdruck und auch wir als Mitarbeiter tragen die eine oder andere dieser »Schürfwunden«.
Wie gut, dass wir den kennen, der echte Heilung schenkt. Ihm möchten wir uns auch weiter anvertrauen, auf Ihn hinweisen und auf die »Zukunft und Hoffnung« (Jeremia 29,11), die er Seinem Volk und allen, die dazu gehören, verspricht.
Danke für alle Unterstützung im Gebet.
