Freude in der Dunkelheit

von Ingrid Bonin

Nach dem jüdischen Kalender haben wir den Monat Adar. Am 14. Adar feiert man Purim – das Losfest – bei dem man an Gottes Rettung vor der geplanten Vernichtung seines Volkes denkt. Die gesamte Geschichte ist im Buch Esther nachzulesen. Dem Fest geht ein Fastentag voraus, wie in der Geschichte eben, und dann folgt ein fröhliches Fest, an dem man sich beschenkt, Wohltätigkeit übt und vor allem ausgelassen feiert.

Freude und Leid liegen so nahe beieinander. Es scheint fasst ein »jüdisches Konzept« zu sein: das Paradoxe der Gefühle. – »Sie wollten uns umbringen, wir haben überlebt. Lasst uns fröhlich sein und essen!«

Ein anderes Bild wäre der Moment bei einer jüdischen Hochzeit, wenn beim Höhepunkt der Freude das Glas zerbrochen wird – ein Brauch der an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70n. Chr. erinnert. Freude und Leid gehen wohl unzertrennlich nebeneinander her.

Ganz vorsichtig habe ich mich etwas umgehört in den Familien, bei denen der Tod an die Tür geklopft hat. Einer sagte: »Wir feiern nicht trotz des Schmerzes, wir ignorieren den Schmerz nicht – sondern mit dem Schmerz möchten wir stark sein und Purim feiern!«

Der Name Gottes wird im Buch Esther kein einziges Mal erwähnt und doch wird sein Wirken offenbar. Aus diesem Grund verkleiden sich die Menschen zu Purim, als Symbol dafür, dass Gott gegenwärtig ist, auch wenn er verborgen scheint. Äußerlich erinnert das Purin-Fest wegen der bunten Verkleidungen an Fasching, inhaltlich hat es jedoch eine völlig andere Bedeutung.

Ich habe mich gefragt: Wie können wir dieses Jahr Purim feiern? Wie können wir in dieser aktuellen, für uns ausweglosen Situation fröhlich sein? Was ist mit den Geiseln? Mir persönlich ist nicht nach Fest und Freude zumute …

Nun, Verborgenheit ist NICHT dasselbe wie Abwesenheit! Gott ist verborgen, aber ER ist da! Gott ist seinem Volk treu. Trotzt der Bedrohung von vielen Seiten und den konkreten Plänen Gottes Volk auszulöschen: Gott ist Teil der Geschichte. Daran dürfen wir nicht zweifeln. Er greift ein, steht zu seinem Volk und verherrlicht sich. Purim ist ein sehr aktuelles Fest: das Schlechte hat sich zum Guten gewendet! Dass ist genau das worauf wir alle gerade hoffen! Eine Wendung zum Guten. Und viele Israelis verstehen es und sagen: »Nur Gott kann hier helfen. Nur er kann ein Wunder in dieser Sackgasse tun.«
In der Regel ist schon vor dem 14. Adar im Pflegeheim Beth Elieser viel Tamtam. Die Kinder aus dem Kindergarten kommen verkleidet vorbei, die Heimbewohner fertigen ihnen vorher kleine Geschenke – es gibt viel Musik und ein nettes Miteinander. Schulklassen kommen ins Haus, bringen viel Stimmung mit, tanzen mit den Heimbewohnern. Es gibt so viel Freude und eine schöne Atmosphäre. Und dieses Jahr?

Aufgrund »der aktuellen Situation«, aufgrund der Tatsache, dass unsere Bewohner seit Monaten im Bunker leben, aufgrund des Platzmangels auf Ebene 2, … – Wie feiern wir Purim?

Der Kindergarten kommt nicht – niemand möchte das Risiko verantworten. Die Synagogengemeinde kommt auch nicht. Die Esther-Rolle wird um 10.30 Uhr gelesen, die Angehörigen der Heimbewohner sind eingeladen dazuzukommen, danach findet der klassische Purim-Kostüm-Wettbewerb der Mitarbeiter statt.

Es ist 10.30 Uhr – die Türen stehen weit offen, es ist laut und ein wenig wuselig. Stühle werden angeschleppt, durchgereicht – immer mehr Menschen kommen dazu. Unsere Nachbarn vom Hügel, Menschen aus der Synagogengemeinde, weitere Kinder und Familien, die wir nicht kennen, die Angehörigen treffen ein. Der kleine Raum auf Ebene 2 ist voll, im Treppenhaus stehen Menschen, die Tür nach draußen bleibt offen – dort stehen auch Menschen, weitere kommen dazu. Es wird immer enger. Ich bin als Schmetterling verkleidet und meine großen Glitzerflügel sind ständig im Weg. So stelle ich mich mit den Flügeln an die Wand, mit dem stillen Gebet im Herzen: »Oh Gott! Vielen Dank für all diese Menschen, die den Weg in unser Haus gefunden haben. Wie bewegend …« –Erwartungsvoll sind alle sehr gespannt, wie es wird.

Endlich, gegen 10.50 Uhr legt sich die Lebhaftigkeit, es wird still – die Esther-Rolle wird gelesen. Ich beobachte etwas die Menschen um mich, sie hören aufmerksam zu, die Kinder lesen mit, eine Leichtigkeit und Freude ist zu spüren. Nach etwa einer halben Stunde wechselt das Geschehen in ein ausgelassenes und fröhliches Fest. Das klassische süße Gebäck, die Haman-Ohren, werden rumgereicht. Für einen Moment haben wir die angespannte Situation um uns vergessen. Heiterkeit erfüllt den engen Raum. Ja, »der Kriegschatten« spiegelt sich in so manchen Kostümen wieder. Durch die Verkleidung hindurch sehe ich in den Augen mancher Anwesenden etwas Traurigkeit, eine heimliche Träne, möglicherweise ist es die Sehnsucht nach Erlösung. Aber im Vordergrund ist eine wirklich angenehme Stimmung. Ich kann es nicht in Worte fassen. Lachen und herzliche Freude, wie wir es die letzten Tage und Monate nicht hatten. Purim – eine Erinnerung, ein Hoffungsschimmer – Licht in der Dunkelheit. Es hat uns allen so gut getan. Auch ich war ganz überwältigt und gerührt, wie schön Purim dieses Jahr war, trotzt der gelben Anstecknadel (als Erinnerung an die Geiseln) an meinem Kostüm.

Ich wünsche, ich wünsche sehr, wir würden es doch bald erleben: »Für die Juden aber war Licht und Freude, Frohlocken und Ehre gekommen.« (Esther 8,16)

Leckere »Haman-Ohren«.