Bericht aus Shavei Zion

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Am Schabbatmorgen sind wir mit den ersten Nachrichten des Raketenbeschusses aus dem Gazastreifen aufgewacht – nach und nach enthüllte sich das ganze schreckliche Bild, von dem wir auch jetzt nach 48 Stunden noch nicht das ganze Ausmaß kennen.

Während im Süden des Landes (knapp 2 Stunden Autofahrt entfernt) ein grausamer Krieg tobt, ist es bei uns im Norden noch relativ ruhig.

Worte sind zu schwach, alle Gedanken und Gefühle zum Ausdruck zu bringen – ich versuche trotzdem kurz unsere surreale Situation in Shavei Zion zu schildern.

Während ich jetzt schreibe, scheint die Sonne, die Vögel zwitschern, die sommerlichen Temperaturen sind etwas gesunken – ein scheinbar perfekter Tag.

Doch etwas ist anders:

Statt im neu renovierten Andachtsraum treffen wir uns zur Morgenandacht im Speisesaal – die Fenster sind geöffnet (so hören wir auf jeden Fall einen möglichen Raketenalarm), die Tür zum Gästehaus ist ebenfalls offen (so kommen wir möglichst schnell in den nächsten Schutzraum). Würde uns der Alarm im Andachtsraum treffen, müssten wir uns im Flur des ersten Stocks im Mitarbeiterhaus auf den Boden legen, um Schutz zu suchen – das wäre mit unserer guten Besetzung von zurzeit 14 Mitarbeitern nicht für alle möglich …

Während wir beten, hören wir Flugzeuge, die im Süden des Landes im Einsatz sind (– oder vielleicht auch schon an der Nordgrenze????).

Unser Hof wird Parkplatz für die Trauergäste, die zur Trauerwoche zu unserer Nachbarin kommen, deren Mann gestern gefallen ist. Am Donnerstag waren sie mit ihren beiden kleinen Jungs und anderen Nachbarn bei uns zu Stockbrot am Lagerfeuer (er fragte, ob er unser Feuerfass ausleihen könne, um auch mal mit seinen Soldaten Stockbrot zu machen …) – und das ist „nur“ eine Familie von aktuell über 700 (!) getöteten Soldaten, Sicherheitsleuten, Frauen, Kindern, Jugendlichen.

Ganz zu schweigen von ca. 2500 Verletzten, die rund um die Uhr medizinisch versorgt werden …

Und was ist mit den über 100 Vermissten???

Die NachrichtenApps und Notfall-WhatsApp-Gruppen geben fast ununterbrochen Signaltöne.

Noch mehr Tote? Verstärkter Beschuss? Anweisungen zur Evakuierung von Ortschaften in Nähe der Nordgrenze – Shavei Zion zählt nicht als unmittelbar grenznah, aber die Evakuierten werden südlich von Lochamej HaGetaot untergebracht … was hat das zu bedeuten? In einem Kibbuz im Süden hielten Terroristen israelische Zivilisten im Speisesaal gefangen – wenn das bei uns wäre????

Die Tore zum Moschaw sind Tag und Nacht geschlossen bzw. bewacht, das Schwimmen im Meer ist verboten – zu groß die Sorge, dass israelische Araber sich den Terroristen anschließen …

Öffentliche Bunker sind geöffnet, Wasservorräte werden aufgefüllt – auch wir haben unsere Notfallpläne aktiviert; erste Anfragen für die Aufnahme von Nachbarn ohne Schutzraum und Evakuierten erreichen uns. Eltern von Mitarbeitern, die zu Besuch bei uns sind, erhalten die Nachricht von stornierten Rückflügen …

Gestern Nachmittag war ich mit unseren neuen Mitarbeiterinnen noch kurz einkaufen, damit jede noch selbst besorgen kann, was sie für Fall X braucht – Duschgel? Deo? Schokolade? Mit uns viele andere Israelis (Juden UND Araber) mit demselben Ziel.

Abends bezogen unsere Mitarbeiter ihre Mehrbettzimmer im Gästehaus. Noch schläft jeder in seinem Zimmer, aber wer weiß, was die nächste Stunde bringt? Auf jeden Fall beruhigt die Option, ein Bett in Schutzraumnähe zu haben.

Die Ungewissheit und Anspannung, die Sorge um Soldaten, die wir persönlich kennen, führen zu einer inneren Unruhe, die spürbar ist, aber noch nicht verbalisiert wird.

Und das absolut Verrückte daran ist … parallel geht alles weiter, als wäre nichts geschehen … Einarbeitung in verschiedene Aufgaben (wieviel Kaffeepulver nehme ich? Wie funktioniert die Spülmaschine? Ist diese Schüssel milchig oder fleischig? Wer kommt zum Abendessen?) – Alltag. Auf der einen Seite scheint alles so unwesentlich, auf der anderen sind es genau diese kleinen alltäglichen Aufgaben, die das Gedankenkarussell durchbrechen, die deutlich machen – ich kann etwas tun; ich muss nicht nur tatenlos auf das Schlimmste warten.

Und nebenher immer wieder Fragen zur Situation, die beim Verarbeiten helfen. Die Gemeinschaft (v. a. auch in der Freizeit) ist gerade jetzt besonders wichtig. Ich bin nicht allein!!!!

Wir sind nicht allein. Israel ist nicht allein.

Das signalisiert auch ihr durch Nachfragen, durch Grüße und ganz besonders durch eure Gebete, die wir, die Israel, jetzt besonders nötig haben. Vielen, vielen Dank für diesen Dienst.

Wir leben gerade von Stunde zu Stunde. Was genau unsere Aufgabe in den nächsten Tagen (und Wochen?) sein wird, wissen wir nicht – wir sind aber bereit für das, was unser Herr uns aufträgt und möchten darin ein Licht für IHN sein – in aller Dunkelheit um uns herum.

ER ist Schutz und Stärke – ER ist der Hüter – ER rettet.

09.10.2023